KLG&‎P Newsletter 1/2016

Die Aufklärungspflicht des (Zahn-) Arztes und das neue Erwachsenenschutzrecht bei der Behandlung betagter Patienten

Allgemeine Literaturangaben

  • Thomas Grieder, Zahnarzt, Recht und Risiko, ein praxisbezogener Beitrag zur Haftung des Zahnarztes, in HAVE 2006
  • PD Dr. Hardy Landolt, Medizinalhaftung, Aktuelle Rechtssprechung zu ausgewählten Themen der Arzthaftung, in HAVE 2009
  • Prof. Dr. Walter Fellmann, Aufklärungspflicht des Arztes und Einwilligung des Patienten, in Arztrecht in der Praxis, von Kuhn und Poledna als Herausgeber, 2007
  • Moritz Kuhn/Thomas Poledna, Arztrecht in der Praxis. 2. Aufl., Schulthess Verlag, 2007
  • Claudia Fink, Aufklärungspflicht von Medizinalpersonen, Stämpfli Verlag 2008
  • Schweizerischer Versicherungsverband SVV, Aufklärungspflicht bei medizinischer Behandlung

Neues Erwachsenenschutzrecht

  • HAUSHERR/GEISER/AEBI-MUELLER, Das neue Erwachsenenschutzrecht, Stämpfli Verlag Bern, 2010
  • CARMEN LADINA WIDMER BLUM, Urteilsfähigkeit, Vertretung und Selbstbestimmung – insbesondere: Patientenverfügung und Vorsorgeauftrag, herausgegeben in der Reihe «Luzerner Beitrage zur Rechtswissenschaft, 2010
  • Tagungsunterlagen «Erwachsenenschutzrecht» der Universität St. Gallen, Institut für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, vom 16. November 2012 im Kongresshaus Zürich
  • Tagungsunterlagen «Erwachsenenschutzrecht» der rechts-wissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern vom 20. November 2012 im Radisson Blue Hotel in Luzern
  • Publikation in SSO internum, Nr. 2/2013, S. 44 mit dem Titel: Das neue Gesetz zu Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht

Gliederung der Ausführungen

  1. Allgemeines über die medizinische Aufklärungspflicht
  2. Die Aufklärungspflicht eines Zahnarztes im Besonderen
  3. Das neue Erwachsenenschutzrecht
    3.1 Grundriss des neuen Rechts ab 1.1.2013
    3.2 Die wichtigsten, für medizinische Behandlungen relevanten, neuen Bestimmungen
    3.3 Eigene Vorsorge (Vorsorgeauftrag/Patientenverfügung)
    3.4 Massnahmen von Gesetzes wegen
    3.5 Behördliche Massnahmen
  4. Verdacht bei Misshandlung oder Vernachlässigung
  5. Fazit

1. Medizinische Aufklärung

Grundsatz

  • Jeder Eingriff in körperliche Integrität des Patienten ohne Einwilligung ist rechtswidrig und strafrechtlich relevant (Körperverletzung)
  • Einwilligung des Patienten oder seines Vertreters setzt Aufklärung voraus, der Arzt ist Fachmann
  • Der Arzt ist beweispflichtig über korrekt getätigte Aufklärung

Aufklärung des Patienten

  • Aufklärungspflichtiger (Delegation)
  • Inhalt der Aufklärung
    - Grund für Behandlung und deren Zweck
    - Durchführungsart der Behandlung
    - Behandlungsrisiko
    - Information über Verhaltensregeln des Patienten
    - Kosten der Behandlung
    - Folgen bei Nichtbehandlung
    - Behandlungsalternativen
  • Form der Aufklärung
    - Beweispflicht (Eintrag in KG, Assistentin etc.)
    - Aufklärungsformulare (?)
  • Zeitpunkt der Aufklärung
  • Verletzung der Aufklärungspflicht und deren Folgen
  • Aufklärungsschaden

2. Aufklärungspflicht des Zahnarztes

Besonderheiten der Zahnarztbehandlung

  • Zahnarztbehandlung ist werk- und werkstoffbezogen; aber gem. BGer. analog Arztbehandlung ebenfalls Auftrag.
  • Einwilligung des Patienten in der Regel mündlich, ausser bei grossen Eingriffen, dann aber angemessene Bedenkzeit

Die zahnärztliche Aufklärungspflicht

  • Befund, Diagnose und deren Tragweite
  • Voraussichtlicher Verlauf und Folgen mit und ohne entsprechendes Handeln
  • Alternativmöglichkeiten
  • Mögliche Risiken und deren Wahrscheinlichkeit
  • Kosten der Behandlung

Besonderheiten bei Betagten

  • Frage der Zweckmässigkeit/Notwendigkeit
  • Verhältnis Kosten – Nutzen
  • Urteilsfähigkeit
    - Feststellung der Urteilsfähigkeit bei Betagten
  • Urteilsunfähigkeit
    - habituelle Urteilsunfähigkeit
    - kasuelle Urteilsunfähigkeit

3. Neues Erwachsenenschutzrecht

(Dritte Abteilung des zweiten Teils ZGB, Art. 360 ff)
(seit 1.1.2013 in Kraft)

3.1 Grundriss des neuen Rechts

  • Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht
  • Förderung des Selbstbestimmungsrechts
  • Begriff Vormundschaft für Erwachsene fällt weg (neu versch. Arten von Beistandschaften)
  • Nur noch auf Einzelfall zugeschnittene Beistandschaften

3.2 Die wichtigsten, für medizinische Behandlungen relevanten, neuen Bestimmungen

  • Eigene Vorsorge
  • Massnahmen von Gesetzes wegen
  • Behördliche Massnahmen

3.3. Eigene Vorsorge

3.3.1 Vorsorgeauftrag (Art. 360 ff ZGB)

Grundsatz (Art. 360 ZGB)

  1. Eine handlungsfähige Person kann eine natürliche oder juristische Person beauftragen, im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit die Personensorge oder die Vermögenssorge zu übernehmen oder sie im Rechtsverkehr zu vertreten.
  2. Sie muss die Aufgaben, die sie der beauftragten Person übertragen will, umschreiben und kann Weisungen für die Erfüllung der Aufgaben erteilen.
  3. Sie kann für den Fall, dass die beauftragte Person für die Aufgaben nicht geeignet ist, den Auftrag nicht annimmt oder ihn kündigt, Ersatzverfügungen treffen.

Formvorschriften (Art. 360 ZGB)

Betroffene Person muss im Zeitpunkt der Errichtung des Vorsorgeauftrages handlungsfähig, das heisst urteilsfähig und volljährig sein. Vorsorgeauftrag muss entweder eigenhändig niedergeschrieben oder öffentlich beurkundet sein (analog Testament).

Deponierung / Hinterlegung (Art. 361 ZGB)

Betroffene Person kann dem Zivilstandsamt der Wohngemeinde mitteilen, dass sie einen Vorsorgeauftrag errichtet und wo sie diesen deponiert hat. Behörde führt ein entsprechendes Register und gibt nötigenfalls Auskunft

3.3.2 Patientenverfügung (Art. 370 ff ZGB)

Grundsatz (Art. 370 ZGB)

  1. Eine urteilsfähige Person kann in einer Patientenverfügung festlegen, welchen medizinischen Massnahmen sie im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit zustimmt oder nicht zustimmt.
  2. Sie kann auch eine natürliche Person bezeichnen, die im Fall ihrer Urteilsunfähigkeit mit der behandelnden Ärztin oder dem behandelnden Arzt die medizinischen Massnahmen besprechen und in ihrem Namen entscheiden soll. Sie kann dieser Person Weisungen erteilen.
  3. Sie kann für den Fall, dass die bezeichnete Person für die Aufgaben nicht geeignet ist, den Auftrag nicht annimmt oder ihn kündigt, Ersatzverfügungen treffen.

Formvorschriften (Art. 370 ZGB)

Betroffene Person muss urteilsfähig, nicht aber handlungsfähig sein Bei Patientenverfügung genügt einfache Schriftlichkeit (also Formular oder mit Computer geschrieben, aber eigenhändige Unterschrift)

Deponierung / Kenntnisgabe (Art. 371 ZGB)

Die die Tatsache, dass eine Patientenverfügung erstellt wurde, sowie der Deponierungsort kann auf der Versichertenkarte eingetragen werden, welche die Krankenversicherungen erstellen.

3.4 Massnahmen von Gesetzes wegen

3.4.1 Vertretung durch Ehegatten/ eingetragenen Partner (Art. 374 ff. ZGB)

Wer als Ehegatte, eingetragene Partnerin oder eingetragener Partner mit einer Person, die urteilsunfähig wird, einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet, hat von Gesetzes wegen ein Vertretungsrecht, wenn weder ein Vorsorgeauftrag noch eine entsprechende Beistandschaft besteht.

Das Vertretungsrecht umfasst:

  1. alle Rechtshandlungen, die zur Deckung des Unterhaltsbedarfs üblicherweise erforderlich sind;
  2. die ordentliche Verwaltung des Einkommens und der übrigen Vermögenswerte; und
  3. nötigenfalls die Befugnis, die Post zu öffnen und zu erledigen.

3.4.2 Vertretung bei med. Massnahmen

  • In Artikel 377 ZGB spricht man von einem sogenannten Behandlungsplan
  • In Artikel 378 ZGB werden die vertretungsberechtigten Personen und deren Reihenfolge aufgelistet
  • Artikel 379 ZGB behandelt die Vorgehensweise bei «dringenden Fällen»
  • Artikel 380 ZGB spricht von Behandlung von psychischen Störungen
  • Artikel 381 ZGB zeigt auf, wann die Erwachsenenschutzbehörde bei medizinischen Massnahmen von Amtes wegen einschreiten muss

Reihenfolge gemäss Art. 378 ZGB

  1. Patientenverfügung oder Vorsorgeauftrag;
  2. Beistand mit einem Vertretungsrecht bei med. Massnahmen;
  3. der Ehegatte oder der eingetragene Partner, der mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt oder ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
  4. die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen Haushalt führt und - kumulativ - ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet
  5. Nachkommen (wenn sie der urteilsunfähigen Pers. regelm. und pers. Beistand leisten);
  6. Eltern, (wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten) 
  7. Geschwister, (wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und persönlich Beistand leisten.)

    urteilsunfähige Person ist nach Möglichkeit mit einzubeziehen

3.4.3 Unterbringung in einer Wohn- und Pflegeeinrichtung

  • Schriftlicher Betreuungsvertrag mit Leistungen und Kosten
  • Einschränkung Handlungsfreiheit für medizinische Massnahmen
  • Freie Arztwahl muss gewährleistet sein (Ausnahme: Notfälle und wichtige Gründe)

3.5 Behördliche Massnahmen (Art. 388 ff ZGB)

Beistandschaften (anstelle altrechtlicher Vormundschaft / Beistandschaft / Beiratschaft)

  • Begleitbeistandschaft
  • Vertretungsbeistandschaft
  • Mitwirkungsbeistandschaft
  • Umfassende Beistandschaft

4. Verdacht auf Misshandlung oder Vernachlässigung

  • Bei Minderjährigen
  • Bei Betagten

Was mache ich als Arzt (Arztgeheimnis?)

A. Minderjährige

Art. 364 StGB
«Ist an einem Minderjährigen eine strafbare Handlung begangen worden, sind an das Amts- oder das Berufsgeheimnis gebundene Personen berechtigt, dies in seinem Interesse der Kindesschutzbehörde zu melden»

Konsequenzen aus Art. 364 StGB

  • ernsthafter Verdacht genügt
  • alle erdenklich mögliche Straftaten
  • Pflicht zur seriösen Interessenabwägung
  • an die zuständige Kinderschutzbehörde KESB
  • eine Berechtigung, keine Verpflichtung

Keine Verletzung des Berufs-bzw. Patientengeheinmisses 

B. Betagte

Keine gesetzliche Regelung

Aber klare Richtlinien in der Praxis

  • Bei Anzeichen von Vernachlässigung und Gewalt = Benachrichtigung der zuständigen Behörde (KESB), aber mit Einwilligung des Betagten
  • Wenn Einwilligung nicht möglich oder aber absolute Notlage vorliegt, mit möglichem Schaden für Patienten
    = Info an KESB auch ohne Einwilligung

5. Fazit

Bei altem und neuen Recht stellen sich die gleichen Probleme

  • Erhaltung oder Förderung der Gesundheit und der Lebensqualität
  • Zwiespalt zwischen Patient und Angehörigen bei Betagten (Erbrecht) bei Jugendlichen (Datenschutz)

Der betagte (und zum Teil auch minderjährige) Patient hat nach dem neuen Recht noch viel mehr Entscheidungskompetenz, und das gilt es zu berücksichtigen

RA lic. iur. Alois Kessler